20151107

Fall 1 - XLI

Das Husten, das daraufhin durch den Raum hallt, lässt mich schockiert gegen die Wand drücken. Schweiß brennt in meinen Augen. Es kam von einem der Tische. Schon bei meiner Ankunft hier hatte ich nur einen kurzen Blick auf sie werfen können, aber mit dem Toten im Rücken, sollte ich retten, was noch gerettet werden kann. Ich trete an den linken der beiden Tische heran.

Die junge Frau ist vermutlich irgendwo zwischen Zwanzig und Vierzig, und war vermutlich vor der unsanften Behandlung durchaus nicht unattraktiv, aber die schwarzen Striche, die, einem Operateur in Vorbereitung gleich, über die verschiedenen Zonen ihres Körpers gezogen worden sind, helfen wenig. In ihre Arme und an verschiedene Stellen über den Oberkörper sowie an den Beinen hängen Kanülen in ihr, mit durchsichtigen kleinen Röhrchen in Verbindung, durch welche verschiedenste Flüssigkeiten scheinbar in oder aus ihr herauslaufen. Auf dem rechten Tisch sieht die Situation etwas tragischer aus. Als ich vorhin hier herein kam, dachte ich, beide wären noch am Leben.

Bei näherer Betrachtung, kann ich erkennen, dass die junge Frau auf dem rechten Operationstisch verstorben ist. Kein Puls. Die Augen sind wie blind, die Haut zieht sich nur quälend über ihre Knochen. Ein furchtbarer Anblick. Mitsamt den Nadeln und Verbindungen zur seltsamen chemischen Apparatur, welche beide Körper entweder mit dieser orangenen Flüssigkeit versorgt oder sie ihnen entzieht.

Neben der Apparatur befindet sich ein Sammelbecken mitsamt einigen Eimern voll mit dieser Flüssigkeit. Es ist scheinbar kein Fett, denn es ist immer noch flüssig in dieser Kälte. Der Geruch aber. Es ist abartig, wie es stinkt, wie eine Kombination aus Galle und Urin. Seltsam, wie es mir in der Sterilen Umgebung bisher nicht auffiel. Das Sammelbecken ist nicht einmal halb voll, es hat ein Füllvermögen für knapp 100 Liter würde ich auf einen Blick schätzen. Es ist gerade mal auf Grundniveau mit der Flüssigkeit gefüllt, die hier als Endreaktion aus der Apparatur fließend herein kommt. Die Apparatur selber.

Was für ein seltsames Gerät. Eine Kombination von verschiedensten chemischen Versuchsgeräten. Als ob ein verwirrter Steinzeitaffe von chemischen Konstruktionen gehört hat und daraufhin versucht hat, es mit einer erzählten Anleitung zusammen zu bauen. Und trotzdem passiert in den verschiedenen Flaschen und Anbauten etwas. Flüssigkeiten werden durcheinander geworfen. Ich komm auf diese Konstruktion nicht klar. Vielleicht ist der Zweck letztlich auch nicht so wichtig. Es muss hier doch irgendwo Dinge geben, für den Fall der Fälle.

Ich wende mich seinem Schlafplatz zu. Bingo. Unter dem Camping-Bett verbirgt sich, neben einer Anhäufung von Müll von aufgerissenen und halb fertig gegessenen Schokoriegeln ein altmodischer Erste-Hilfe Koffer. Komm zu Papa. Er ist staubüberzogen. Ein einfaches Pusten wirbelt genügend Staub auf, um den Eindruck zu erwecken, der Koffer wäre aus dem ersten Weltkrieg. Naja, bei dem Bild da drauf ist das vermutlich gar nicht so unwahrscheinlich. Immerhin, drinnen gibt es einige Dinge, die immer gebraucht werden. Notfallverbandszeug, Pflaster, Klammern, die wichtigsten Materialien sind drin. Mitsamt Kofferinhalt und der Schlafdecke Fouquiers, denn er wird sie jetzt garantiert nicht mehr brauchen, trete ich an den linken Tisch heran, wo ich langsam und vorsichtig anfange, die Kanülen zu ziehen.

Als ich die zweite Kanüle ziehe, schüttelt sich ihr gesamter Körper und ihr milchiger Blick ruckt zu mir herüber. Das Krächzen aus ihrem Hals und die laufenden Tränen. Sie muss mit Betäubungsmitteln durch die verschiedenen Leitungen vollgepumpt worden sein. Ich hülle sie, so gut ich kann, in die Decke ein, während ich die restlichen Kanülen entferne. Sie zittert wie Espenlaub. Kein Wunder, bei dem was sie durchgemacht haben muss. Ich greife unter die Decke, um sie anzuheben. Sie ist sehr leicht. Sie muss starke Gewichtsverluste mitgemacht haben. Langsam trage ich sie rüber auf das Camping-Bett, setze sie vorsichtig ab. Ihre Lippen formen Worte. Ich rücke näher an sie heran, halte mein Ohr dicht an ihren Mund. Ihre Stimme ist fast unhörbar, leiser als das ruhigste Flüstern, ein tragisches Widerhallen von Ton aus einem dunklen Ort, wo schon lange kein Laut mehr erklungen war.

Junge Frau
..n….ke…

Ich ziehe mich etwas zurück, nicke ihr zu. Streiche ich sanft über den Kopf. Sie schließt die Augen. Ich habe das Gefühl, als sei sie gerade vor meinen Augen gestorben. Aber die Ruhe und das stetige, fast nicht zu vernehmende Atmen, wirken gut.

Ich entferne mich langsam von ihr. Ich benötige immer noch einen Hinweis. Einen klaren Treffer, etwas das mich hier weiterbringt. Glücklicherweise ist Fouquiers Schreibtisch und Aktenschrank nicht weit entfernt. Der Schreibtisch ist eine einzige Katastrophe. Dokumente sind wild umher geworfen und durcheinander gemischt offen auf dem Tisch verteilt, von verschiedenen Drähten, Versuchsanleitungen und Operationsprozedere und Berichten mal abgesehen. Ein kurzer Blick auf die medizinischen Dokumente beschreibt Veränderungspunkte und Wege, einem Menschen mitsamt einem neuen Aussehen auch eine neue Persönlichkeit zu verleihen. Hmm, sieht hauptsächlich auf den Zeichnungen nach Schönheitschirurgie aus, höhere Wangen, solche Sachen.

Moment. Eine kleine Mappe, ziemlich begraben unter all dem zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Der dunkelgrüne Einschlag macht den optischen Eindruck nicht besser. Psychosomatische Beeinflussung – Subjekte. Die Mappe ist nicht dick, nur ein paar Bilder mit etwas, das entfernt an eine Krankenakte erinnert. 3 junge Frauen. Die Namen fehlen, aber sie alle sind sich irgendwie ähnlich. Die Erste sticht mir besonders ins Auge. Ich habe sie schon mal irgendwo gesehen. Kleine Nase, weiche Gesichtszüge, rehbraune Augen..aber wo? Es liegt mir auf der Zunge, ich bin mir sicher, aber es zündet irgendwie einfach nicht.

Die anderen beiden kenne ich nicht. Vermutlich sind sie alle Opfer von Fouquiers sadistischen Methoden. Krankhafter…Ruhe bewahren. Tief durchatmen. Weiter die Sachen auf dem Tisch durchwühlen.

Der Rest scheint größtenteils eine Ansammlung von verschiedenen Anweisungen, Rechnungen für Psychopharmaka und einer Reihe an Ausschnitten verschiedener Geschichtsbücher. Die Themen wirken wild durcheinander. Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg, Russland, Deutschland. Vielleicht war er auch noch so ein Geschichts-Fetischist, der sich an solchen Dingen aufgeilt?

Was ist das? Unter dem Stapel von wild umher geworfenen Dokumenten kommt ein kleines braunes Büchlein zum Vorschein, mit wilden mit Bleistift geschriebenen Notizen und Anmerkungen. Zeichnungen von Menschen und Anatomischen Studien. Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Im zweiten Drittel beschreibt das Büchlein den Versuch, ein bestimmtes menschliches Äußeres nachzubilden. Auf Anfrage eines Kunden. Versuchssubjekte werden geliefert?!

Es wird ein bestimmtes Äußeres beschrieben, eine junge Frau, vom Leben gezeichnet, klar erkennbare Erb-Linie im Äußeren, blond bis dunkelblond. Eine zierliche Nase sei hilfreich, aber nicht zwingend. Kaukasische Wurzeln erforderlich? Mir schwant fürchterliches. Laut Fouquiers Notizen hat er sich an 3 Personen versucht zu dem Zeitpunkt, welche ihm von seinem unbekannten Gönner geliefert wurden. Ob das dieser Kaltenstadt war? Alle 3 Frauen lagen also bei ihm auf der Schlachtbank. Aber wozu?

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